A. Worum es geht
In vielen Ländern, auch in demokratischen, vollzog sich seit Ende der 70er Jahre eine von der Bevölkerung womöglich nur in Teilen gewollte Umverteilung der Nettoeinkommen von Arm zu Reich. Ein Beispiel dafür ist Schweden, aber auch in Deutschland fand insbesondere nach der Jahrtausendwende eine spürbare Verschiebung hin zu den (Einkommens-)Reichsten der Gesellschaft statt (Kap.B).
Das scheint inzwischen keine rein soziale Frage mehr zu sein. Bei Auswertungen auf Basis von Daten des Statistischen Bundesamtes zeigt sich, dass von einer Umverteilung hin zu mehr Einkommens-Gleichheit heute gut 2/3 der Bevölkerung, also auch die mittleren bis gehobenen Einkommen finanziell profitieren würden (Kap.B) - von mehr Vermögens-Gleichheit ganz zu schweigen.
Es fragt sich, ob diese Entwicklung von einem Großteil der Gesellschaft mitgetragen wird, oder ob es sich eher um eine schleichende, überwiegend ungewollte Entwicklung handelt?
- Wie könnte die wahlberechtigte Bevölkerung zu diesem Thema befragt werden?
- Wie könnte eine Tantiemenregelung für die Abgeordneten des Deutschen Bundestags aussehen, wenn sie die Ergebnisse von Volksabstimmungen1 in erfolgreiche Politik umsetzen?
- Und wäre es denkbar, dass die Bevölkerung über solche Tantiemenregelungen gleich mit abstimmt?
Wünschenswert wäre, wenn schon im Grundgesetz eindeutige Regelungen über die Durchführung, Regelmäßigkeit und Verbindlichkeit von Abstimmungen zu kurz-, mittel- und langfristigen Zukunftsfragen existierten. Vielleicht könnten solche Referenden und Initiativen auch helfen, das Vertrauen der BürgerInnen in die demokratische Gestaltungsfähigkeit von Gesellschaft und Staat wieder zu beleben.
Im folgenden wird ein Entwurf vorgestellt und diskutiert, wie eine vielleicht auch regelmäßig stattfindende Abstimmung zum Thema 'Zukünftige Einkommens-Verteilung' aussehen könnte. Die Faktenlage zur Information der Wahlberechtigten wird nur exemplarisch dargestellt. In der Praxis sollte sich die Bürgerinformation im Vorfeld solcher Befragungen am Vorgehen in der Schweiz orientieren. Dort wird allen Wahlberechtigten Wochen vor jeder Befragung ein offizielles 'Büchlein' mit den eigenverantwortlichen Stellungnahmen der Träger öffentlicher Belange (wie Parteien, Gewerkschaften, Arbeitgeber-, Sozialverbänden etc.) zur Orientierung zugesandt.
B. Einkommensverteilung nach 1995
Von 1995 bis 2023 ist das 2Einkommen* der in Deutschland lebenden Bevölkerung im Schnitt um 22,4% gestiegen (0,73% pro Jahr) - nach Abzug der Inflation. Für die erste Person eines Haushalts 3(1. Pers.eH) wuchs es, mit zum Teil großen 4Schwankungen, 5in etwa um stattliche 461,- € netto im Monat (eigene Berechnungen5, 6).
Jedoch konnte in den 28 Jahren nur die obere Einkommenshälfte halbwegs durchschnittliche Nettoeinkommens-Steigerungen erzielen. Allein das Zehntel der Höchstverdiener erreichte extrem überdurchschnittliche Steigerungen um bisher 37,5%:
Bevölkerungs-Zehntel, sortiert nach Einkommens-Reichtum - je reicher, desto mehr Einkommens-Zuwachs über die Jahrzehnte hinweg - sogar prozentual (eig. Berechnungen 5, 6)
So ist die sehr viel schlechtere Einkommens-Entwicklung der Einkommens-ärmeren Hälfte der Bevölkerung ausschließlich dem Einkommens-reichsten Zehntel zugute gekommen. Und innerhalb des Einkommens-reichsten Zehntels hat das obere 1% den mit Abstand größten Zuwachs erreicht (hier nicht zu sehen).
Die Schere zwischen Arm und Reich (bzw. Reich und dem ganzen Rest) ging über die Jahrzehnte spürbar auseinander. Das gesamte Nettoäquivalenz-Einkommen der Bevölkerung hat sich seit 1995 wie folgt auf die 10 Zehntel der Bevölkerung verteilt:
°Gini-Koeffizient: Das klassische Ungleichheitsmaß. Je höher dieser Wert, desto ungleicher die Verteilung der Einkommen* in der Bevölkerung. Zwischen 1995 und 2021 stieg die Ungleichheit anhand von jeweils 10 Einzelwerten7 von 0,249 auf 0,302 (eig. Berechnung). Bis 2023 sank sie wieder spürbar. Das lag neben gezielter Sozialpolitik auch am starken Wirtschaftseinbruch nach den Corona/Ukraine-Entwicklungen der letzten Jahre. Gini alleine eignet sich aber nicht zur Beurteilung von Sozialpolitik, weil sich bei ihm die unteren Einkommen gegenüber den mittleren bis oberen weniger auswirken. Deshalb soll hier auch das Verhältnis (o60-10)/u20pp betrachtet werden:
°°Verhältnis (o60-10)/u20pp: Der Indikator gibt an, um wieviel das Einkommen der oberen 60minus10% der Bevölkerung pro Person das der unteren 20% übersteigt. (Die oberen 10% werden hier bei rückwirkenden Vergleichen nicht berücksichtigt, weil deren Einkommen durch die Konjunkturlage zu sehr schwankt8 und den Wert des Indikators als Sozialmaß schmälern würde. Bei Zukunfts-Vergleichen werden auch die oberen 10% einbezogen - als o60/u20pp. Die Eink.-Anteile des 1. und 2. Zehntels wirken sich etwa doppelt so stark auf den Indikator aus, wie die des 3. und 4.) 1995 waren die Nettoeinkommen* der Eink.-reichsten 60-10% pro Person noch 2,25 mal so hoch, wie die der Eink.-ärmsten 20%. Bis 2021 stieg dieser Wert auf 2,66 - sank dann aber durch gezielte Sozialpolitik wieder auf 2,45 - etwa den Stand von 2005.
Dennoch dürfte sich die reale Einkommens-Situation der unteren Zehntel seit 2005 deutlich verschlechtert haben, weil bei der offiziellen Inflations-Berechnung die massiven und gerade für untere Einkommen überproportionalen Mietsteigerungen nach 2005 nicht entsprechend berücksichtigt werden.9
C. Wahl-Frage zur künftigen Einkommensverteilung
Betrachtet man Legislaturperioden der vergangenen Jahrzehnte, in denen sich die Gleichheit und Sozialgerichtetheit der Einkommensverteilung in Deutschland deutlich verändert hat, betrug die Änderung des Gini-Koeffizienten etwa 0,03. Diese Beobachtung mündet hier in ein universelles Vorgehen, um für die Gleichheit und Sozialgerichtetheit von Abstimmungs-Varianten dieser Art objektiv begründbare Wahl-Ziele benennen zu können.10 Ausgangspunkte zur Berechnung (Interpolation) der Varianten sind hier der StatusQuo (2023) sowie der "30"-Jahres-Trend (1995-2023).
Zur Frage der künftigen Einkommens*-Verteilung sehen Sie im folgenden 7 inhaltlich sortierte Antwort-Varianten. Zu jeder Variante wird als 1. Wahl-Ziel eine bestimmte Einkommens*-Verteilung für die 10 Bevölkerungs-Zehntel während der nächsten Legislaturperiode genannt (Legislatur-Ziel). Außerdem ist der Übersichtlichkeit halber zu sehen, wie sich das Gesamt-Einkommen* der Bevölkerung je nach Variante künftig auf die 5 Einkommens-Fünftel der Bevölkerung verteilt.11
Hinzu kommt als zweites Ziel, dass es in jedem Jahr ein reales Wirtschafts-Wachstum geben soll (Wachstum des Bruttoinlandsprodukts - BIP), das mindestens den Durchschnitt der europäischen Staaten im Euro-Raum erreichen soll. Dieses Ziel gilt für alle sieben Antwort-Varianten gleich:
Ermittlung der Wahlsieger-Antwort: Nach Auszählung der Stimmen werden die erzielten Stimmenanteile der 7 inhaltlich sortierten Antwort-Varianten schrittweise aufaddiert. Als gewählt gilt die Antwort-Variante, bei der die Summe der addierten Stimmenanteile die 50%-Marke überschreitet (absolute Mehrheit). Die inhaltlich sortierte Reihenfolge der 7 Antwort-Varianten ist: 3, 2, 1, 0, 4, 5, 6.
Diskurs: Wer die Notwendigkeit sieht, der Bevölkerung auch schnellere Korrekturen zur bestehenden (Un-)Gleichheit zu ermöglichen, könnte mit derselben Methodik einfach und objektiv weitere Abstimmungs-Varianten definieren (zum Beispiel mit +- 0,04 Gini Abweichung zum letztbekannten Ist-Zustand = viel sozialer/unsozialer und +- 0,05 Gini Abweichung = sehr viel sozialer/unsozialer). Ergänzt um die zugehörigen Einkommens-Verteilungen auf Bevölkerungs-Fünftel dürften auch diese Varianten für die Wahlbevölkerung halbwegs intuitiv und einfach verständlich sein.
D. Abstimmungs-Frage zur Erfolgsprämie
Der Deutsche Bundestag mit seinen Abgeordneten hat viele Möglichkeiten, die Aufteilung des deutschen Gesamt-Einkommens auf die Bevölkerung zu beeinflussen.
Je nachdem, welche der sieben Antwort-Varianten gewählt wird, sind die künftigen Abgeordneten des Deutschen Bundestages aufgefordert, die zugehörigen Wahl-Ziele in den nächsten Jahren auch einzuhalten.
Wenn die Abgeordneten beide Wahl-Ziele der gewählten Antwort-Variante erfolgreich umsetzen, dann sollen Sie auf ihre Abgeordnetenentschädigung als Jahres-Tantieme eine bestimmte Erfolgsprämie in % erhalten. Zur langfristigen Gegenfinanzierung der Erfolgsprämie wird von ihrer Abgeordnetenentschädigung vorab ein Pauschal-Abzug einbehalten.
Je wichtiger Ihnen als Wähler die künftige Einkommens-Verteilung ist, desto mehr Prämie sind Sie wahrscheinlich bereit, den Abgeordneten im Erfolgsfall zukommen zu lassen. Je nach Höhe der Prämien erhöht sich auch der Anreiz für die Abgeordneten. Ihre Bezahlung ändert sich durch die gleichzeitige Erhöhung des Pauschal-Abzugs im langfristigen Schnitt aber kaum.
Ermittlung der gewählten Erfolgsprämie: Nach der Wahl werden die erreichten Stimmenanteile der Antworten von oben nach unten zusammengezählt. Als gewählt gilt die Antwort, bei der die Summe der addierten Stimmenanteile die absolute Mehrheit von mehr als 50% der Stimmen erreicht.
Auszahlung der gewählten Erfolgsprämie je nach Grad der Zielerreichung:
Die gewählte Erfolgs-Prämie wird für jedes Jahr (jeweils 12 Monate ab Beginn der Legislaturperiode) nur dann vollständig an die Abgeordneten ausgezahlt, wenn sie es schaffen, in den 12 Monaten beide Wahl-Ziele der von der Bevölkerung gewählten Variante ausreichend zu erfüllen.
Für jeden Zehntel-Wert der gewählten Variante gilt die Differenz zwischen Ist-% (in 2023) und Ziel-% als Unter-Ziel zum Wahl-Ziel 1 (Einkommens-Verteilung). Beinhaltet ein Unter-Ziel einen hohen %-Satz, dann werden im 1. Jahr einer Legislaturperiode hohe Abweichungen vom Unter-Ziel toleriert (50% - s.u.), in den Folgejahren zunehmend weniger (herunter auf 10%). Bei Unter-Zielen mit geringen %-Sätzen beträgt die tolerierte Abweichung meist nur 0,1%-Punkte.
Für eine vollständige Prämien-Zahlung werden folgende Abweichungen zu den Wahl-Zielen toleriert (ganz grob):
Einkommens*-Verteilung: Abw. im 1./ 2./ 3./ 4. Jahr ≦ 50/ 30/ 20/ 10% v.Unter-Ziel, min.0,1%-Punkte
Wirtschafts-Wachstum: real ≧ Wachstum (BIP) im Euro-Raum je 12 Monate
Fallen die Abweichungen größer aus, wird der jeweilige Prämien-Faktor (1,0) der beiden Ziele je nach Abweichung vom tolerierten Wert gekürzt (ebenfalls nur grob):
Einkommens*-Verteilung: Abw. v. tol.Wert der 10 Unter-Ziele: je 0,1%-Punkte => Kürzung des Verteilungs-Prämien-Faktors 1,0 um je 0,1
Wirtschafts-Wachstum: je 0,1 %-Punkte weniger => Kürz. d. BIP-Präm.-Faktors 1,0 um 0,1; je 0,1 %-P. mehr => Erhöhung d. BIP-Prämien-Faktors 1,0 um 0,1
Durch Multiplikation der beiden resultierenden Prämien-Faktoren miteinander sowie mit der gewählten Erfolgsprämie ergibt sich die verbleibende Erfolgsprämie für die Abgeordneten im betreffenden Jahr.
In der Praxis ergäbe sich daraus:
Werden die Unter-Ziele zum 1. Wahl-Ziel nur gering verfehlt, hat das keine Auswirkung auf die Erfolgsprämie. Mit jeder etwas größeren Abweichung bei einem der Zehntel verringert sich die verbleibende Prämie um mindestens 10%-Punkte.
Wird innerhalb eines Jahres ein reales Wirtschafts-Wachstum von z.B. nur 0,5% erreicht (bei 0,8% im Euro-Raum), verringert sich die nach dem ersten Wahl-Ziel verbleibende Erfolgsprämie um weitere 30%. Bei einem negativen Wirtschafts-Wachstum ab minus 0,2% entfiele die Erfolgsprämie in diesem Beispiel komplett. Bei mehr Wachstum als im Euro-Raum stiege die Prämie, sofern auch die anderen Ziele nicht zu weit verfehlt werden.
E. Einwand zum Interpolationsziel 30-Jahres-Trend (Kap.C)
Die in Kap.C dargestellte Methodik zur Interpolation der Wahl-Varianten entsprechend des 30-Jahre-Trends ist logisch und praxisnah, stellt jedoch nicht die einzige Möglichkeit dar. So könnte von einzelnen Parteien der Einwand kommen, dass sie sich mit dem Interpolationsziel der Antwort-Varianten nicht identifizieren können.
Zum Beispiel könnten Parteien, die eine der unsozialeren Varianten präferieren, anfügen, dass bei denen bisher nicht nur die unteren 4 Bevölkerungs-Zehntel, sondern sogar die unteren 7 Zehntel stetig Einkommens-Anteile verlieren, wodurch 70% der Bevölkerung ein Eigeninteresse bekämen, eine der sozialeren Varianten zu wählen.
Tatsächlich bedeutet die Fortführung des 30-Jahre-Trends, dass nur die oberen 20% der Bevölkerung anteilig gewinnen können und die unteren 70% definitiv verlieren. Und tatsächlich dürfte es möglich sein, unsoziale Interpolations-Ziele zu kreieren, bei denen nur die unteren 40% Anteile verlieren, die oberen 60% aber gewinnen.
Um dem nachzugehen, wurde eine Einkommens-Verteilung nur für die unsozialeren Varianten als Interpolationsziel erstellt, die, ursprünglich ausgehend vom aktuellen 30-Jahres-Trend, händisch so verändert wurde, dass trotz zunehmender Ungleichheit die oberen 60% der Gesellschaft stärker profitieren, als bei den sozialeren Varianten. (Letztere wurden nicht angepasst, obwohl auch sie für noch höhere Zustimmungswerte im mittleren Bevölkerungs-Drittel optimierbar wären.)
Das 40/60unsozial-Interpolationsziel, das dabei entstand, liegt hier bei etwa 1,4/ 1,8/ 2,7/ 4,9/ 9,4/ 10,0/ 11,3/ 12,8/ 15,5/ 30,5 Prozent vom Gesamt-Einkommen für das erste bis zehnte Einkommens-Zehntel der Gesellschaft. Daraus ergibt sich für dieses Ziel ein Gini-Koeffizient, der sich mit 0,4281 noch deutlich ungleicher darstellt, als derzeit bereits in den USA (dort etwa 0,40). Das zugehörige o60/u20pp-Verhältnis liegt bei 9,46 (USA-Wert nicht bekannt).
Das dürfte am Ende zwar eine der unsozialsten Einkommens-Verteilungen ergeben, die für ein demokratisches Land überhaupt vorstellbar ist, ohne dass die unteren 10% der Gesellschaft systematisch hungern. Aber es zeigt sich, dass es in begrenztem Umfang tatsächlich möglich ist, das für die unsozialeren Varianten maßgebliche Interpolationsziel systematisch so anzupassen, dass die mittleren Einkommensbezieher (05.-07. Zehntel) dort mittelfristig die gleichen finanziellen Vorteile haben, wie bei den sozialeren Varianten - mit unverhältnismäßig steigenden o60/u20pp-Werten aber mit den gleichen Gini-Werten wie beim 30-Jahres-Trend als Interpolationsziel.
Hier wird wieder deutlich, dass der Gini-Koeffizient zwar Gleichheit misst aber alleine nicht in der Lage ist, die Sozialgerichtetheit der unteren Einkommens-Zehntel halbwegs korrekt zu bewerten.
Es zeigt sich auch, dass es beim heutigen Stand der Ungleichheit nicht mehr möglich sein dürfte, die unsozialeren Varianten so stark zu modellieren, dass das ganze mittlere Drittel der Gesellschaft genauso gewinnt, wie bei den sozialeren Varianten. Die Interpolation ergab hier für das mittlere Bevölkerungs-Drittel (bei +-0,03 Gini) einen maximalen Anteil von 29,3% gegenüber 29,9% bei den sozialeren Varianten.
Können sich die Parteien also weder auf den naheliegenden 30-Jahres-Trend, noch auf ein anderes Interpolationsziel einigen, kann es sinnvoll sein, die Bevölkerung alle 2-3 Legislaturperioden auch hierüber abstimmen zu lassen.
F. Abstimmung zu mittelfristigen Interpolationszielen (Mittelziele)
Um außer den 'Standard'-Interpolationszielen in Richtung "30-Jahres-Trend, Absolute Gleichheit, Absolute Ungleichheit, Spreizung 3,0 x, etc. (ggf. auch in gegen-Richtung)" weitere aussagekräftige Interpolationsziele für eine Abstimmung zu finden, wären also die Parteien selbst zu befragen. So kommen vielleicht auch Interpolationsziele wie das in Kapitel E konstruierte 40/60unsozial zur Abstimmung.
Die von den Parteien freiwillig zu benennenden Interpolationsziele sollten für einen mittleren Horizont von vielleicht zwei bis drei Legislaturperioden erfragt werden (Mittelziele). Vor der Abstimmung müssten sie einheitlich hochgerechnet werden, z.B. auf +-0,06 Gini vom Ist-Zustand, damit ihre Auswirkungen auf mittlerer Sicht objektiver miteinander vergleichbar werden (ein Ziel mit nur +0,005 Gini sieht stets fast identisch aus wie der StatusQuo, kann aber bei Interpolation auf +0,06 Gini extreme Unter- schiede zum StatusQuo aufweisen).
Außerdem sollte sich jeder Wähler bei der Abstimmung getrennt für eines der sozialeren und eines der unsozialeren Mittel-Ziele entscheiden. Dies dürfte notwendig sein, da Interpolationsziele, die weit jenseits vom 30-Jahres-Trend liegen, in beiden Interpolations-Richtungen verwendet, sehr gegensätzliche Wirkungen entfalten können - zum Beispiel in der einen Richtung besonders sozial, in der anderen besonders unsozial. Da ist es besser, wenn für die künftigen sozialen und unsozialen Antwort-Varianten unterschiedliche Interpolationsziele gewählt werden.
Betrachtet man die Beispiele auf der Folgeseite, besonders die der rechten Hälfte, fällt auf, wie sehr sie sich zum Teil bei identischem Gini-Ungleichheitswert in ihrer Struktur unterscheiden. Zum Teil gleichen sie sich aber auch so, dass man sich vor einer Abstimmung bestimmt auf weniger und dafür prägnantere Mittel-Ziele einigen würde.
Sortiert wurden die folgenden Beispiele anhand ihrer o60/u20pp-Werte (jeweils der rechte Wert in Klammern) - im Prinzip also wieder nach ihrer Sozialgerichtetheit. Jedoch fällt auf, dass die ermittelte Reihenfolge für jede der beiden Hälften (sozial/unsozial) nicht ganz so eindeutig ist, dass nach der Volksabstimmung die erzielten Stimmenanteile (ähnlich wie in Kapitel C und D) der Reihe nach bis zur absoluten Mehrheit addiert und so für jede Hälfte ein Mittelziel als Abstimmungs-Sieger bestimmt werden könnte. Insofern dürfte diese Methode der Stimmenauswertung hier weniger infrage kommen.
Stattdessen dürfte hier eher eine Abstimmung mit Erst- und Zweitwunsch für jede der beiden Seiten (sozial/unsozial) infrage kommen. (Das StatusQuo-Ziel funktioniert nicht als Mittelziel zur Interpolation und wurde hier nur zum Vergleich aufgeführt.)
Jedoch anhand welcher Mittelziele auch immer die von der Bevölkerung zu wählen- den Legislatur-Ziele interpoliert werden, so könnte es stets den Einwand geben, dass es unproduktiv sei, beispielsweise eine Mitte-rechts-Regierung per Volksabstimmung und Prämien dazu anzuhalten, Mitte-links-Verteilungsziele umzusetzen. Will man diesem Argument folgen, so gibt es aber auch hierfür praktikable Alternativen.
G. Legislatur-Ziele als Teil des Wahlprogramms von Parteien
Soll gewährleistet werden, dass es während der Legislaturperioden keine größeren Konflikte zwischen der gewählten Koalition und den von der Bevölkerung gewählten Verteilungszielen gibt, wäre auch ein vollkommen anderes Vorgehen denkbar:
Jede Partei könnte dazu verpflichtet werden, vor jeder Bundestagswahl ein eigenes konkretes Verteilungsziel nur für die Dauer der Legislaturperiode vorzulegen. Das wäre äußerst transparent - die Bevölkerung wüsste, woran sie ist. Sollte eine Partei sich darauf nicht festlegen können, wäre ihr offizielles Ziel automatisch die Beibehaltung des StatusQuo. Eventuell wäre es sinnvoll, auszuschließen, dass eine Partei für die nächste Legislaturperiode vollkommen unrealistische Verteilungs-Vorstellungen proklamiert. So könnte die Spannbreite zum Beispiel auf +- 0,05 Gini zum StatusQuo beschränkt werden.
Käme nach der Bundestags-Wahl eine Koalition zustande, würden die unterschiedlichen Zehntel-Ziele der Koalitionäre gemittelt, und zwar gewichtet nach den bei der Wahl erzielten Stimmenanteilen der beteiligten Parteien. Das gewichtete Mittel für jedes Zehntel würde automatisch zum 1. Wahl-Ziel für die Legislaturperiode im Sinne von Kapitel C und damit für mögliche Erfolgs-Prämien an die Abgeordneten - bei dieser Vorgehensweise sollte es vielleicht nur für die Abgeordneten der Koaltitionsparteien eine Prämie geben (natürlich mit zugehörigem Pauschal-Abzug).
Vorstellbar wäre auch, dass die Parteien vor jeder Wahl zwar offizielle Verteilungsziele nennen, sich in den Koalitions-Verhandlungen aber noch auf prämienrelevante Unter-Ziele einigen dürfen, die vom gewichteten Mittel zwischen den Koalitionären abweichen.
In jedem Fall würden die konkreten Verteilungsziele der Parteien für die Bevölkerung bereits vor jeder Bundestagswahl transparent offengelegt. Und falls sie verfehlt werden, könnten sich die Anhänger der Koalitionsparteien damit trösten, dass ihre Abgeordneten zumindest keine Prämie erhalten.
Ob das letztenends reicht, um dafür zu sorgen, dass die Realität der Einkommens-Verteilung sich schrittweise den langfristigen Zielen der Bevölkerungs-Mehrheit nähert, dürfte damit jedoch noch nicht garantiert sein. Das gilt eingeschränkt auch für die reinen Legislatur-Ziele in Kapitel C. Und so kann es durchaus Sinn machen, die Bevölkerung auch nach ihren langfristig präferierten Verteilungszielen zu befragen.
H. Fernziele: Wo solls hingehen in 50-100 Jahren?
Zusätzlich zu den Legislatur-Zielen (wie in Kapitel C oder G) könnte es zielführend sein, die Bevölkerung alle 10 bis 20 Jahre auch nach ihren sehr langfristigen Vorstellungen zu befragen. Wie sollte die Verteilung der Einkommen in der 50- oder 100-jährigen Zukunft aussehen? Was hält die Mehrheit für angemessen und gerecht?
Hierbei könnten alle im Bundestag vertretenen Parteien sowie erfolgreich gestartete Volksinitiativen ein eigenes Fernziel (mit %-Anteilen für jedes Bevölkerungs-Zehntel) für die Abstimmung vorlegen. Die verschiedenen Fernziele würden so stehen gelassen, wie präsentiert. Hinzu käme als Fernziel auch der Status-Quo. Alle Fernziele würden dann losgelöst von der Bundestags-Wahl (mit Erst-, Zweit- und evtl. Drittwunsch) zur Abstimmung gestellt.
Nachdem sich die Bevölkerung für ein Fernziel entschieden hat, sollte dafür jedes Jahr eine eigene kleinere Erfolgsprämie zur Verfügung stehen. Zur Konstruktion eines sinnvollen Verhältnisses zwischen Legislatur-Prämie und Fernziel-Prämie sollte eine Analogie zum Bergsteigen hilfreich sein: Um nicht abzustürzen, sind jeweils die nächsten Schritte entscheidend (also die Einhaltung der Legislatur-Ziele). Nach oben kommt man aber nur, wenn man eine gewisse Vorstellung vom Gesamtweg hat (das Fernziel). Daraus lässt sich ableiten:
Wurden die Legislatur-Ziele in einem Jahr halbwegs erreicht und kommt dafür zumindest eine kleine Prämie zur Auszahlung, kann als nächstes geschaut werden, ob man sich gleichzeitig dem Fernziel genähert oder nahe bei ihm geblieben ist. Trifft das zu, würde es für das Fernziel noch eine eigene kleinere, je nach Zielerreichung abgestufte Erfolgs-Prämie obendrauf geben. Wird jedoch keine Erfolgsprämie für die Legislatur-Ziele erreicht, kann es auch keine für das Fernziel geben. Auf diese Weise sollte (bei ausreichend hoher Fernziel-Prämie) sichergestellt werden können, dass sich die Einkommens-Verteilung langfristig in die mehrheitlich angestrebte Zukunft bewegt, ohne die aktuellen Notwendigkeiten der nächsten Legislaturperiode außer Acht zu lassen.
I. Aussicht
Die Verteilung der Netto-Einkommen innerhalb der Gesellschaften dürfte als eine der zentralen Gerechtigkeits-Fragen überhaupt empfunden werden. Wer einer weiteren Schwächung im Ansehen der Demokratien entgegen wirken möchte, sollte Sorge tragen, dass bei diesem wichtigen Thema keine allzu großen Differenzen zwischen dem Willen der Bevölkerung und dem Handeln der Politik entstehen.
Ziel dieser Arbeit war es, beispielhaft darzustellen, wie die Priorität der Bevölkerung zu diesem Thema konkret erfragt, und eine Realisierung durch die Politik über Tantiemen langfristig wirksam gefördert werden könnte.
Die Anwendung der vorgestellten Befragungs-Methodiken in entsprechenden Volksabstimmungen sollte tatsächlich in der Lage sein, für mehr Transparenz und langfristig auch wieder mehr Vertrauen in die Funktionsweisen der Demokratie zu sorgen. Durchaus wichtig dürfte dabei sein, dass die Politik im Falle des Versagens einen Preis dafür zahlt - wie zum Beispiel ausbleibende Prämien.
Zwar stünde es regierenden Koalitionen auch frei, Vorgaben von Volksbefragungen zu ignorieren und auf Tantiemen zu verzichten. Dennoch sollte die Anwendung der vorgestellten Regelungen dazu führen, das von der Bevölkerung priorisierte Maß an Gleichheit und Sozialgerichtetheit in der Gesellschaft auf längere Sicht nicht (mehr) allzu weit zu verfehlen.
J. Statt einer juristischen Einordnung
Auch wenn der Autor als Nicht-Jurist hier keine wirkliche juristische Einordnung versuchen möchte: Jedes der oben vorgestellten Konzepte für verbindliche Volksabstimmungen zur Einkommensverteilung bedürfe zunächst einer Anpassung des Grundgesetzes.
Im durch die Ewigkeitsklausel des Grundgesetzes geschützten Artikel 20 Abs. 2 GG („Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen […] ausgeübt.“) werden Volksabstimmungen zwar grundsätzlich als mit der Verfassung vereinbar genannt, jedoch gibt es (außer den Spezialfällen von Art. 29 oder 146) bisher keine weiteren Grundgesetzartikel, die die Durchführung von verbindlichen Volksabstimmungen zu weiteren Themen auf Bundesebene regeln oder rechtfertigen.
Dennoch scheint grundsätzlich nichts dagegen zu sprechen, per 2/3-Mehrheit neue Artikel in die Verfassung aufzunehmen, die Volksabstimmungen zu allen möglichen weiteren Themen zukünftig ermöglichen. Dazu könnten auch Abstimmungen mit mehreren Abstimmungs-Alternativen gehören, solange dadurch auf überschaubare Weise eindeutige Abstimmungs-Ergebnisse herbeigeführt werden können.
Verwiesen werden soll hier ausdrücklich auf die vielfältigen Aktivitäten von Mehr Demokratie e.V., die bereits in den 90er Jahren den ersten Entwurf zur Ergänzung des Grundgesetzes um ein dreigliedriges Volksgesetzgebungsverfahren vorgelegt und durch detaillierte Ausführungsgesetze ergänzt haben - letzter Stand in:
https://www.mehr-demokratie.de/mehr-wissen/bundesweite-volksabstimmung
Allerdings wären die oben vorgestellten Konzepte für (womöglich) regelmäßig durchzuführende Volksentscheide zur Einkommensverteilung oder Abstimmungsverfahren mit mehreren Alternativen durch die Initiativen von Mehr Demokratie e.V. bisher nicht abgedeckt. Durch ihre besonderen Vorgehensweisen stellen sie vielmehr Sonderfälle dar, die in weiteren Grundgesetzpassagen entsprechend geregelt werden müssten.